Platanenschnitt

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Freitag, den 5.Februar 2010

Als ich gestern Vormittag, irgendwann, nebenbei, aus Gewohnheit, vor die Haustüre trat, um mir ein Bild davon zu machen, was grad` los ist in der Natur, welche Temperatur die Luft hat, wie der Himmel aussieht, welchen Gesamteindruck die Baumreihe auf der Allee macht, da sah ich diesmal zu meiner Überraschung einen großen Reisighaufen vor der Türe liegen.

Ich schlage den Monat Februar auf in einem Büchlein mit Bildern aus einem flämischen Stundenbuch aus dem Mittelalter. Dieses Büchlein schenkte mir mal eine Frau, die zuvor einige Jahre in Australien gelebt hatte. Die Bilder fassen in pointierter Form das Wesentliche jeder Jahreszeit zusammen mit Beispielen aus dem bäuerlichen Leben. Es begleitet mich schon seit vielen Jahren, egal wo ich wohne. Jetzt wohne ich mitten in der Stadt, eine etwas trostlose Situation für jemanden, der die Natur liebt. So schaue ich eben zwischendurch, irgendwann am Tag, Briefkästen und Kellertüre im Rücken, zur Haustüre hinaus. Da brummt mir dann in großem Schwall der Verkehr entgegen. Ich sehe Leute mit ihren Hunden spazieren gehen, hektische Leute, Herumsteher, es riecht auch nach Hundekot. Man dreht und wendet den Kopf ein wenig, um mit den Augen die Himmelsstreifen abzusuchen. Vom Himmel gibt es hier nur wenig zu sehen, weil das meiste von Häusern verdeckt wird. Wenn ich etwas mehr vom morgendlichen Himmel sehen will, da wo schon die Sonne aufgegangen ist, muß ich bis ans Ende der Allee laufen, wo sich der Himmel etwas weiter über eine große Kreuzung spannt.

 
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So lese ich heute morgen im Stundenbuch den erläuternden Text von Erhart Kästner: „Vom bäuerlichen Tagewerk gibt es auch im Februar noch viel zu berichten…So wird ein einfaches Geschäft des Monats geschildert: das Holzsammeln…wie er mit dem krummen Schlagmesser auf die Kerbe zwischen Ast und Stamm einhaut, den einen Fuß ein wenig vorgesetzt, den Rücken ein wenig gebeugt…der Kampf der Bäuerin mit den widerstrebenden Zweigen, die ihr beim Bücken aus dem Arm rutschen…man spürt die lichtgrüne Klarheit, die ausgefrorene Helligkeit der Februarluft.“

So stand ich also sinnend vor dem großen Reisighaufen, hier, mitten in der Stadt. Die Arbeiter, die für die Grünanlagen zuständig sind, hatten die Platanen gekappt.

Nachts, wenn ich nochmal durch den Hausflur gehe, mache ich manchmal noch einmal die Tür auf, um die Nachtluft zu atmen und in die stilleren Straßen zu schauen. Hier und da schlurft noch jemand herum, irgendwo döst für eine Weile ein Auto vor einer Ampel, die nach einiger Zeit, ihre Farbe wechselt. Sah man tagsüber jemanden grinsend auf einem Plakat, sieht man ihn jetzt grinsend bei Lampenschein.

 
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Diesmal blieb ich länger vor der Türe stehen, besah mir den Reisighaufen, zog hier und da an einem Ast, liebäugelte mit verschiedenen Formen, sah die Allee hinunter, die nur spärlich beleuchtet ist. Es war ¼ nach 1 Uhr. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, so einen Ast mit Gezweig inmitten meiner Räume zu sehen!

Ich suchte mir einen aus, einen mit ausgewogenen Proportionen. Er war etwas über 3 Meter lang und natürlich sperrig – aber biegsam. Wie kommt man nun unbemerkt mit so einem Teil eines Baumes durch den Flur eines Miethauses, ohne daß die Leute denken, sie hätten Räuber Hotzenplotz gesehen? Erster Tipp: Man läßt das Licht aus. Die städtische Lichterflut bringt wirklich in alle Winkel noch etwas Beleuchtung. Man ist im Dunkeln, mit seinem Vorhaben alleine, in aller Stille, konzentrierter und entschlossener. Man ist konzentriert wie ein Artist, wenn es darum geht, nachts, unbemerkt mit etwas sperrig Gewachsenem durchzukommen in einem Treppenhaus, ohne daß abstehende Zweige an Nachbars Türen kratzen oder wie über ein Xylophon am Geländer vorbeiratschen.

Zunächst, noch ganz unten im Hausflur, gerade auch erst die letzten Ausläufer des Gezweigs nach innen gebracht, erschien es mir aussichtslos und zum Verzweifeln. In solchen Momenten kann es helfen, sich vollständig zu bündeln, mit den Gegebenheiten eins zu werden, nur noch etwas zu wollen und sich nicht mit Zweifeln aufzuhalten.

 
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Ich umfaßte also das ganze Gebilde wie einen guten Freund. Nicht ich ging mit dem Riesengezweig durchs Treppenhaus, sondern wir nutzten wendig, mit Geschick, vorsichtig und gezielt die Freiräume des Bauwerkes. Manchmal mußte ich innehalten, weil ich irgendwo ein schabendes oder klopfendes Geräusch hörte, das erstaunlich weit von uns entfernt war. Ich merkte, daß ich die Reichweite von Zweigen, die in Baumkronen wachsen, in Räumen gewöhnlicher Bauart, unterschätzt hatte.

Entschlossen, mich nicht noch im letzten Moment von Nachbarn als Verrückte erwischen zu lassen, bugsierte ich alles mit angehaltenem Atem in meine Wohnung. Kaum war mir gelungen erst einmal die Türe hinter mir zu schließen, versuchte ich, die Lage mit den Augen abzuschätzen. Jedoch: Auch die kleinste Bewegung erzeugte akkustische Überraschungen – so lernt man seine Wohnung kennen!

Ich hätte auch ein viel zu großes Schiff in meine Wohnung bringen können! Für`s Erste hatte ich den vorhandenen Freiraum so genutzt, daß ich sozusagen das ganze Gesperre hineingebettet hatte. Es war mir schon etwas bang zumute, als ich nun in aller Stille betrachteten konnte, wie sich dieses Gebilde hier in meinen Räumen ausbreitete. Es herrschten völlig veränderte Verhältnisse. Fast taten mir meine anderen Sachen leid. Da nun nichts mehr klirrte, sirrte, leicht bebte oder kollerte, legte ich mich erst einmal auf den Fußboden, um mich zu besinnen.

 

Eine Weile später wanderte ich verstohlen durch meine Wohnung und versuchte zu erkennen, an welchem Platz das Geäst am besten wirken würde. Mit äußerster Disziplin machte ich ein paar mühselige Versuche. Als ich mich für einen entschieden hatte, war ich noch ungefähr eine Stunde damit beschäftigt, die neuen Verhältnisse in diesem Zimmer zu betrachten, das neue Linienwerk hinter meinem Schreibtisch. Immer wieder setzte ich mich unter das Astwerk, versuchte den Anblick beim Betreten des Zimmers auf meine Augen wirken zu lassen, betrachtete durch die Zweige das daneben hängende fröhlich-freche Bild, auf dem jemand, ohne mit der Wimper zu zucken, Vögel, Sträucher, Gitter, Meer und blauen Himmel gemalt hat so ähnlich wie Picasso!

Sanft überspielen die Zweige die Zimmerecken. Ich legte mich erschöpft schlafen.

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